Wenn Du einen Satz mit „eigentlich“ beginnst, kannst du es „eigentlich“ auch gleich ganz lassen
Eigentlich war das alles ganz anders geplant. Wild und geil sollte unser Leben sein, unkonventionell, frei und besonders.
Und nun sitze ich hier zu Hause, ungeduscht, im Jogger und obwohl es ein Sonntag ist, war meine Frau gerade beim Bäcker und hat Streuselkuchen zum Frühstück mitgebracht. Ich könnte glücklicher nicht sein.
Wie konnte es bloß soweit kommen?
Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir wieder einmal nichts vorbereitet hatten. Naja fast. Einen großen Strauß Rosen hatte ich bestellt. Aber sonst? Walter stand auf der Einfahrt, wie ich ihn vor zwei Wochen abgestellt hatte. Das Spülbecken lag ausgebaut neben dem Chaos aus Ablaufstutzen, Schrauben, Dichtungen und Ideen, die nicht funktioniert haben. Ich hasse es! Ich wollte doch nur „mal eben“ den Abfluss umbauen, damit das Wasser im Spülbecken auch abläuft, wenn wir mit Walter nicht mindestens 45° Neigung nach hinten haben. Handwerklich hatte ich alles perfekt geplant und alles versucht. Allein – es half nix: ein neues Abflussset bestellt – zu klein, noch ein neues Set bestellt – zu groß. Aus beiden ein ganz neues zusammenschustern – passt nicht. Stundenlang online nach einer Gesamtlösung gesucht – nix gefunden. Ich habe keine Ahnung, wer diese Überlauf-Geruchsverschluss-rechts-um-die-Ecke-Ablauf-weniger-als-2cm-Spielraum-Abflüsse erfunden hat. Wasser fließt bergab – nicht geradeaus oder bergauf! Falls derjenige hier mitliest: danke für nichts! Wenn wir mit Walter vorne nicht mindestens einen halben Meter höher stehen als hinten, läuft der Dreck nicht ab. Und von dem Spott der anderen Camper würde ich Dir gerne erzählen, lieber Abflusserfinder.
Jedenfalls, 2 Stunden vor der geplanten Abfahrt habe ich das alte Teil wieder eingebaut. Frischwasser aufzutanken habe ich übrigens nicht mehr geschafft. „Machen wir unterwegs“, hab ich mir gedacht. Bis heute ist der Tank leer, den alten Abfluss haben wir nicht gebraucht.
Noch ein kurzer Blick zurück:
bevor wir hektisch gepackt, den alten Abflussstutzen eingebaut und kein Wasser getankt haben, sind wir überraschend pünktlich losgegangen. Amtsgeschäfte erledigen.
Inzwischen lieben wir es ja, in unserem kleinen Dorf aufs Amt zu gehen. (Link) Lange haben wir nach einer neuen Gelegenheit gesucht, Soni hatte die zündende Idee und jetzt war es endlich so weit.
Geduscht, gestriegelt und bester Dinge stehen wir vor der Tür: geschlossen. Gerade will ich nach der Nummer des für uns zuständigen Amtszimmers auf der großen Tafel neben der Klingel suchen, da öffnet uns eben jener Beamte die Tür persönlich. Fein im Anzug, dezente Krawatte und ebenso guter Dinge wie wir.
Im Anzug habe ich Herrn S. tatsächlich noch nie gesehen. Werde ich auch nie wieder, wie er uns später berichten wird, aber er steht ihm.
Wir werden fröhlich, fast überschwänglich begrüßt, ein kurzer Weg über die amtlichen Flure und schon sind wir da.
Plötzlich springt die Tür auf und ein großer Blumenstrauß schiebt sich herein. Dahinter kaum zu sehen unsere fröhliche Blumenfee, bei der ich vor einer knappen Stunde noch die bestellten Rosen abgeholt habe.
Von wegen „… man muss ja nicht bis zum Valentinstag warten. Blumen zwischendurch sind viel schöner….“ jajaja – Du hast alles gewusst und trotzdem nichts gesagt! Sehr schön, es tut gut zu wissen, wer hier im Dorf noch Geheimnisse bewahren kann.
Jedenfalls bekommen wir überraschend einen Blumenstrauß hereingereicht und dann soll es losgehen.
„Haben Sie die xy-Papiere dabei“?
„….???“ „nee“
„na gut, dann muss ich das eben vorlesen. Dauerts halt länger“
Nachdem wir 4 Mal bestätigt haben, dass alles seine Richtigkeit hat, geht’s auch schon los.
„hier hat übrigens noch nie jemand „nein“ gesagt“
Ich fühle mich emotional leicht unter Druck gesetzt.
„Für mich ist das hier übrigens die Letzte – für Euch bitte auch“
Alles klar, der meint das ernst.
„wollen Sie den hier anwesenden … …“
„ja“
Soni meint es auch ernst, so schnell und klar war ihre Antwort.
Und weil ich es ebenso ernst meine, antworte ich auch schnell und deutlich „ja“
Die Unterschrift mit meinem neuen Namen hakelt noch etwas, aber Herr S. verspricht mir, dass niemand außer ihm jemals wieder diese Urkunde anschaut. Und er geht ja nun bald in den verdienten Ruhestand.
Weil hier angeblich noch nie jemand „nein“ gesagt und er uns im Vorfeld vertraut hat, sind alle weiteren Unterlagen schon fertig. Mit Stempel und Siegel und so.
„Eigentlich“ wollten wir diesen Moment und diesen Tag ganz für uns alleine haben. Trotzdem hören wir ein Rufen und Winken, als wir vor die Tür in den schönsten Sonnenschein treten. Ein wenig Familie, engste Freunde und jede Menge Sprutzel. Herrlich!
Wir betrinken uns in der Sonne, Herr S. kommt dazu und plötzlich wirkt alles gar nicht mehr so amtlich. Kurz bevor wir gehen, wird uns noch eine ganz besondere Ehre zu Teil. Wir beschließen, der Chefin vom Einwohnermeldeamt (eigentlich ist sie die heimliche Chefin des ganzen Dorfes) zur Feier des Tages auch eine Dose Prosecco zu bringen. Weil die Amtszeit des Amtes bereits vorüber ist, werden wir durchs Fenster begrüßt und privat eingelassen. Wir plaudern, scherzen und verabreden uns für den Sommer auf Weißwein und Garnelen in Scharbeutz. Und plötzlich bietet uns Frau D. das „Du“ an.
Mehr geht nicht an diesem Tag!
Drei Stunden später. Aus einer geplanten, kleinen Mittagsruhe wird ein ausgewachsener Mittagsschlaf. Jetzt aber schnell. Immerhin haben wir für den Abend in Hamburg reserviert. Die Tische sind so begehrt, dass ich tatsächlich die „wir heiraten an diesem Tag“ Karte ziehen musste, um überhaupt einen Tisch zu bekommen. Wir sollten also besser pünktlich sein.
Es beginnt der übliche Tanz, kurz bevor wir losfahren: Soni packt einen Wäschekorb mit Klamotten, einer Notration Wein, Wasser für Kaffee und Tee und dies und das. Björni trägt Bettzeug, Schuhe und technischen Krimskrams in den Walter. Diesmal aber erst, nachdem das Spülbecken wieder eingebaut und verschraubt ist – aber das wisst Ihr ja schon.
Jedenfalls sind wir freudig erregt, auch wenn es hektisch ist. Karlchen weiß gar nicht was los ist, guckt verwirrt und hat vor allem Angst, dass er allein zurückbleiben muss. Kommt gar nicht in Frage, das Rudel bleibt zusammen. Für immer, wie uns Herr S. ja heute von Amtswegen empfohlen hat.
Wie auch immer wir das geschafft haben, wir kommen halbwegs pünktlich los. Walter schnurrt, auch wenn der Tank fast so leer wie die Frischwasservorräte sind. Aber irgendwas ist ja immer. Egal, wird schon klappen.
Wir kommen ohne besondere Vorkommnisse am Hafen an und finden auf Anhieb einen Walter-tauglichen Parkplatz direkt vor der Tür. Ich sag ja – das wird unser Tag heute.
Es wuselt, es ist hell, es ist bunt, es ist laut, es stinkt nach Fisch – wir lieben Hamburg!
Die nächsten drei Stunden werden wir verwöhnt, wie es uns sonst nur in den Amtsstuben unseres kleinen Heimatdorfes passiert: ein gediegenes Ambiente, Blick auf den Hafen, ein extrem aufmerksamer, aber unaufdringlicher Service. Nicht zu vergessen die Hamburger Kodderschnautze, mit der jeder Gang und jedes Glas Wein begleitet wird.
Während wir uns aneinander und über das Essen freuen, schweift der Blick zu den anderen Gästen.
Am Tisch direkt hinter uns feiert eine große Familie Papas Geburtstag. Ich schätze, er ist 60 oder 65 geworden. Die drei gerade eben erwachsenen Söhne lümmeln am Ende des Tisches, kratzen genervt die Kräuter vom Steak, trinken den teuren Rotwein wie Wasser und sind ansonsten derart gelangweilt, dass sie nach kurzer Zeit anfangen, Minecraft oder ähnliches auf ihren iPhones zu spielen. Immerhin offenbar miteinander/gegeneinander. Papa ist trotzdem glücklich, seine jüngere Tochter plaudert nämlich aufgeregt mit ihm und himmelt ihn an. Oma, Opa und Mutti sind so mittendrin und tauschen den neusten Familientratsch aus.
Als erstes entdecken wir links neben uns Frau Unternehmergattin. Soni identifiziert auf Anhieb Kleidung und Handtasche im fünfstelligen Bereich. Bezahlt wahrscheinlich von ihrem klischeehaften Hanseaten-Mann, welcher wahrscheinlich Unternehmer im Gewürz- oder Kaffeehandel ist. Es wäre jedenfalls eine Schande, mit seiner riesigen Nase nicht in diesem Bereich erfolgreich zu sein. Außerdem identifiziere ich auch hier eine gewisse Langeweile, allerdings weniger am Tisch als vielmehr im Leben insgesamt. Aber das sind natürlich alles nur Klischees.
Übrigens: Vorsicht vor Klischees. Rechts von uns sitzt ein älterer Herr, stattlich mit schlohweißem Haar. Ihm gegenüber in unserem Blickfeld eine bildhübsche Frau, deutlich jünger als Soni. „War ja klar, alter weißer Mann mit Geld und seine Gespielin“ denken wir und verdrehen innerlich die Augen. Als wir später gehen, sehen wir neben ihm – vorhin nicht in unserem Blickfeld – eine ebenso bildhübsche Frau, ebenso alt wie der weißhaarige Mann. Und es ist unverkennbar eine Vater-Mutter-Tochter-Konstellation dort am Tisch.
Welche Klischees auch immer wir hervorrufen bei den anderen Gästen, irgendwann kurz vor der Sperrstunde gehen wir fröhlich knutschend zu Walter, sind satt, zufrieden und leicht angetüddert. Karlchen dagegen findet das alles doof. Es ist ihm zu laut, zu hell und überhaupt: „Wo wart ihr denn so lange ohne mich“.
Schon immer wollten wir über Nacht mal am Fischmarkt stehen. Gesagt, getan. Die knapp 200m zurück findet Walter alleine, mit unserer Hilfe sogar einen freien Platz. Mit Blick auf den geschäftigen Hafen schlafen wir zufrieden ein.
„Guten Morgen Frau Tiedemann, wie hast Du geschlafen“ säusele ich meiner Frau am nächsten Morgen ins Ohr, als sie zwei Stunden nach mir wach wird.
„Hör bloß auf, Polizeisirene, Party, Kopfsteinpflaster und Regen auf dem Dach. Wer soll denn da schlafen?“
Ich kriege mich fast nicht mehr ein vor Lachen – genau so geht es mir auch. Wenn ich überhaupt geschlafen habe, dann nur kurz und mit laufender Unterbrechung. Ständig hatte ich das Gefühl, jemand steht direkt am Walter, der LKW hinter uns löst ein Erdbeben aus und die Möwen kreischen mir ins Ohr. Fehlt nur noch, dass ein Parkplatzwächter mit der Taschenlampe zu uns reinleuchtet. Ach ja, hat er ja auch. Kurz nach 6, als ich schon aufgestanden war.
Wann ist es eigentlich passiert, dass wir solche Pullerlieschen geworden sind? „Früher“ waren wir selbst diejenigen, die nicht laut genug sein konnten und bis zum Sonnenaufgang durchgefeiert haben. Und jetzt? Können wir in Hamburg nicht mehr ruhig schlafen. Ich glaub es ja nicht!
Wie auch immer – wir lieben Hamburg trotzdem. Der erste Kaffee im Regen an der Kaimauer ist durch nichts zu ersetzen. Höchstens vielleicht durch ein Frühstück am Strand. Und das holen wir uns jetzt. Auf geht’s an die Küste.
Walter schafft es bis zur nächsten Tankstelle, dort gibt’s neben Diesel noch einen Kaffee und nach einer guten Stunde sind wir auch schon da. Wie gestern auch mehr als pünktlich. Was ist hier los? Sollte uns das Eheleben etwa …. nein! Denk nicht einmal daran! Wild & geil soll es sein, eigentlich.
Wir haben einen Termin, aber der verläuft eher enttäuschend. Macht nichts, wir ziehen weiter und erkunden die Küste. Nach einem klassischen Mittagessen fängt es an zu regnen. Nicht so richtig, sondern so feine, fisselige Bindfäden, die überall reinkriechen. Und wenn sie es nicht schaffen, reinzukriechen, drückt der Wind das Wasser durch alle Poren. Es ist widerlich! Und es hört nicht auf. Es wird immer mehr Wasser und immer mehr Wind.
Walter stemmt sich tapfer gegen den Wind, auch wenn er inzwischen eher Schlangenlinien fährt. Aber als Kapitän eines so stolzen Schiffes kann ich das natürlich nicht zugeben. „Wind ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben“ zitiere ich mich selbst und fahre tapfer weiter.
Wohin eigentlich? Keine Ahnung. Die letzte Station unserer Rundreise haben wir absolviert und wollten uns jetzt eigentlich einen Stellplatz für die Nacht suchen. Am liebsten direkt am Wasser.
Bei dem Sturm? Selbst ich muss inzwischen zugeben, dass das keine verlockende Idee ist. Die ersten Schafe dürften inzwischen tatsächlich keine Locken mehr haben, wenn sie nicht vorher ertrunken sind. Es schüttet und stürmt wie Odins Rache.
„und warum fahren wir nicht einfach nach Hause?“ fragt mich meine frisch angetraute von der Seite. Habe ich wirklich….? Ja! Und sie hat irgendwie Recht. Ob wir jetzt im Sturm und Regen an der Küste stehen und schlecht schlafen oder zu Hause voll die Spießer sind – dafür aber gut schlafen – ist eigentlich keine schwere Entscheidung.
Karl brauchen wir gar nicht erst zu fragen, der findet sowieso gerade alles doof. Teeny eben. Also los. Nach zwei Stunden rollen wir sicher und trocken auf den Hof. Die alten Mauern empfangen uns mit Wärme und Sicherheit. Noch einen Schlummertrunk und am nächsten Morgen werden wir das Gefühl haben, noch nie so gut geschlafen zu haben. Es wird Streuselkuchen zum Frühstück geben und einen Plan für die nächste Tour. Richtung Süden, in die Sonne. Gute Nacht! Und schlaft gut!









